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Channel: Geschlechter – JOCHEN KÖNIG
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The Red Pill – Maskulinistentreffen in Berlin

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2016-11-15-11-31-02
Ich fahre an einem Montagabend mit der S-Bahn in den Berliner Nordosten. Die Kinder sind bei ihren Müttern. Ich bin mit David und Marius vom Ficko-Magazin (Ergänzung: hier der Ficko-Text) unterwegs. In einem Kino in Hohenschönhausen findet an diesem Abend ein Klassentreffen deutscher Maskulinisten statt. Über eine Crowdfunding-Kampagne wurde die Deutschlandpremiere des Dokumentarfilms „The Red Pill“ von Cassie Jaye finanziert und organisiert.

Auch der Film selbst wurde in den USA bereits crowdgefundet. Über 200.000 $ kamen zusammen. Die „feministische“ Filmemacherin Jaye möchte im Film die amerikanische Männerrechtsbewegung kennenlernen. Sie trifft sich mit bekannten Protagonisten, stellt im Laufe der Zeit ihre feministischen Überzeugungen in Frage und fühlt sich mehr und mehr ein in die Welt der Maskulinisten.

Der Titel des Films ist eine Anspielung auf den Film „Die Matrix“. Nur wer die rote Pille schluckt, erkennt die Wahrheit. Alle anderen leben weiterhin in einem Gefängnis, in einer Scheinwelt, die aufgebaut wurde, um die Wahrheit zu verschleiern. Es geht dem Film also nicht darum, die Perspektive zu erweitern, die „andere Seite“ zu hören, Männer zu Wort kommen zu lassen, sondern es geht um einen höheren Wahrheitsanspruch. Entsprechend dem aktuellen Zeitgeist wird die Frage des Films ideologisiert und pathetisch überhöht zum Kampf Feminismus und „Lügenpresse“ gegen Meinungsfreiheit.

„Dieser Film muss gezeigt werden, auch wenn gewisse Kreise dabei Gift und Galle spucken!“, kommentiert ein Unterstützer der deutschen Crowdfunding-Kampagne. Wir sind etwas zu spät. Der Kinosaal ist gut gefüllt, geschätzt etwa 100 Männer und höchstens 10 Frauen sitzen im Publikum. Wir bekommen noch drei Plätze in der zweiten Reihe.

Gefühlt die Hälfte der Zeit sind traurige Männer in Großaufnahme auf der Kinoleinwand zu sehen. Sie erzählen darüber, wie schwer es Männer heute haben: Arbeitsunfälle, Gewaltopfer, Selbstmorde, Bildungsverlierer, Sorgerecht – in so vielen Bereichen seien Männer heutzutage benachteiligt. Aber niemand interessiere sich dafür. Die Probleme dürften noch nicht einmal benannt werden, denn dann stehe sofort ein wütender, hasserfüllter Feminist_innenmob vor den Veranstaltungsräumen. Cassie Jaye sitzt barfuß kniend am Rand eines Sofas neben einem breitbeinigen Männerrechtler, nickt verständnisvoll, seufzt und bekommt kaum eine Nachfrage heraus.

Zwischendurch werden Ausschnitte aus Jayes Videotagebuch gezeigt. Bei so vielen Männertränen, werden auch ihre Augen glasig. Sie wisse einfach nicht, ob das alles stimme, was ihr erzählt wird. Sie kommt jedoch auch nicht auf die Idee, sich inhaltlich damit auseinanderzusetzen. Die Männer wollen doch einfach nur, dass auch wir Feminist_innen ihnen endlich einmal zuhören, so wie sie uns in den letzten 50 Jahren zugehört hätten. Was könne daran falsch sein?

Der Feminismus habe sich so tief in der Gesellschaft etabliert, dass ein Blick auf das Leiden der Männer unmöglich werde, konstatieren mehrere Männerrechtsaktivisten. Immer wieder wird der Feminismus als Feindbild inszeniert, der in der Vergangenheit zwar vielleicht mal seine Berechtigung hatte, heute allerdings nur noch eine echte Geschlechtergerechtigkeit unmöglich mache.

Dabei ist es überhaupt kein Skandal, öffentlich über Probleme von Männern zu sprechen. Die Ursache vieler dieser Probleme liegt jedoch nicht im Feminismus. Im Gegenteil: Es sind bisher sogar fast ausschließlich Feminist_innen, die sich überhaupt ernsthaft mit diesen Themen auseinandersetzen. Nur leider gefällt vielen Männerrechtsaktivisten die feministische Analyse eher weniger.

Viele der Probleme haben mit vorherrschenden Männlichkeitsbildern zu tun: Viele Männer bringen sich um, weil sie mit den Anforderungen, die ihnen in Bezug auf ihre Männlichkeit gestellt werden, nicht zurechtkommen. Wenn Väter es aufgrund ihres männlichen Rollenverständnisses nicht schaffen, ihre Karriere zurückzustellen, um Zeit mit dem eigenen Kind zu verbringen, haben sie 10 Jahre später auch schlechtere Chancen, ein Wechselmodell durchzusetzen. Viele Feminsit_innen thematisieren entgegen des von Männerrechtlern behaupteten Tabus auch seit Jahren die Gewalttäterschaft von Frauen. Sie weisen beispielsweise daraufhin, dass Beate Zschäpe nicht einfach nur entsprechend klassischer Rollenbilder die „Freundin von“ ist, sondern genauso Täterin sein kann.

Als Jaye am Ende des Film mitteilt, dass sie sich nach ihren Gesprächen mit den Männerrechtsaktivisten von nun an nicht mehr als Feministin versteht, applaudiert das Kinopublikum. Wir stehen nach dem Film noch eine Weile im Foyer des Kinos herum und unterhalten uns. Es sind noch etwa 40 Leute da. Ich erkenne ein paar Gesichter: Männerrechtsaktivisten, mehr oder weniger bekannte Antifeministen, Verschwörungstheoretiker, Rechtspopulisten, Männercoaches. Ein Buchhändler hat ein paar Bücher ausgelegt und empfiehlt im Gespräch bekannte Maskulinistenblogs zum Weiterlesen.

Die Akteure der Männerrechtsbewegung im Film, aber auch außerhalb des Films in Deutschland, arbeiten sich lieber an äußeren Feinden ab und führen Scheingefechte, statt sich selbst tatsächlich mit den genannten Problemen zu beschäftigen. Und wenn ich etwas verächtlich ein paar Absätze zuvor von „Männertränen“ schreibe, dann nicht, weil ich reale Probleme lächerlich machen möchte. Vielmehr finde ich es wichtig, die Scheinheiligkeit zu kritisieren, mit der Männerrechtsaktivisten die Probleme von Menschen instrumentalisieren, um ihren Kampf gegen Feminismus und Frauen, Homosexualität und Trans*-Rechte zu führen. Der Film bietet wunderbares Anschauungsmaterial, wie gut um Probleme herumgeredet und von wichtigen Fragen abgelenkt werden kann.


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